Lederfabrik Lindgens
Kassenberg 2



Walter Buschmann
Die Lederfabrik Lindgens in Mülheim a. d. Ruhr



Geschichte


Nach ersten Hinweisen auf das Gerberhandwerk in Mülheim a. d. Ruhr im 17. Jh. entwickelte sich dieser Gewerbezweig erst nach 1850 zu industrieller Größe. Die 1861 gegründete Lederfabrik Ludw. Lindgens hatte erheblichen Anteil an dieser Entwicklung.

Ludwig Lindgens entstammte einer Familie, die seit vielen Jahrhunderten als Bauern oder Müller am Niederrhein tätig war. 1861 heiratete er eine Tochter des Gerbermeisters Rühl, ließ sich in Mülheim a. d. Ruhr nieder und produzierte in der neueingerichteten Lederfabrik am Kassenberg 55 Glanzvachetten für die Verdecke von Pferdekutschen. 1873 wurde der Betrieb an den jetzigen Standort an der Grenze zwischen Broich und Saarn verlegt. Die Firma Lindgens galt nun als besonders leistungsfähig bei der Herstellung von braunem Blankleder für militärische Zwecke. Kurze Zeit später leistete die Firma mit den 1876 aus Amerika eingeführten und erstmals in Europa mit Erfolg eingesetzten Bandmesserspaltmaschinen einen wesentlichen Beitrag zur Industrialisierung der Lederfabrikation. 1883 brannte die Fabrik nieder, konnte aber in neuem Glanz wiedererstehen. Als neue Spezialität wurden Lackvachetten hergestellt.

Nach 1900 erlebte das Werk eine besonders intensive Phase der Erweiterung. 1910 entstand eine große Lackierfabrik und 1912 eine Wasser- und Kalkwerkstatt. Lohgerberei und Chromlederherstellung wurden erheblich vergrößert. Das Wasser wurde nun aus 8 Brunnen geschöpft, da sich das Ruhrwasser als zu eisenhaltig erwies.

Schaubild um 1912
Wie historische Fabrikansichten zeigen, lag das Werk 1912 auf dem 9,2 ha großen Gelände noch abseits der vorbeiführenden Straße, die Broich und Saarn verband. Durch das neue Fabrikgebäude von 1915/16 und die Verwaltung von 1922 wurde die Nahtstelle zum öffentlichen Raum neu definiert. Das Unternehmen stellte sich nun in geradezu monumentaler Weise dar.

Nach Verlust der Märkte im Osten und zwischenzeitlicher Scheinblüte während des Ersten Weltkrieges durch Einspannung in die Kriegsproduktion wurde in den 1920er Jahren verstärkt Lackleder hergestellt. Chromlackleder wurde bald zum wichtigsten Produkt des Unternehmens.Da die Werksanlagen aus den 1880er Jahren und aus dem Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende bereits stark verändert sind mit nur noch geringer Aussagekraft, sind die straßenbegleitenden Bauten von 1915/16 und das Verwaltungsgebäude von 1922 in industrie- und architekturgeschichtlicher Hinsicht von besonderer Bedeutung.


Beschreibung

Fabrikbau von 1915/16 an der Düsseldorfer Straße. Foto 2019
Parallel zur Düsseldorfer Straße, etwa 4,0 m von der Straßenflucht zurückliegend, ist der 52,0 m lange, nach Plänen des Architekten Franz Hagen 1915/16 entstandene Fabrikbau angeordnet. Die Einfriedung entlang der Straßenflucht besteht aus einem Stabgitterzaun zwischen gemauerten Backsteinpfeilern.

Der viergeschossige Backsteinbau (gesandete Ziegel mit Wulstfugen) mit 18 zu 3 Fensterachsen ist über einem schlicht gestalteten Sockelgeschoß mit Rechteckfenstern in den Obergeschossen in geradezu monumentaler Weise gestaltet. Die 18-achsige Vorderfassade wird gegliedert durch 2-achsige, knapp aus der Flucht des Hauptbaukörpers vortretende, übergiebelte Seitenrisalite. Die Giebelfelder dieser Risalite sind gerahmt durch kräftige, profilierte Putzgesimse, die sich als Traufgesimse in den Seitengiebeln fortsetzen und mit einem stark dimensionierten Konsolgesims unter der Traufe der Vorderfassade und einem Sohlbankgesims über dem Sockelgeschoß korrespondieren. Zwischen den Horizontallinien der Gesimse fügt sich in den Seitenrisaliten eine Pilasterordnung ein. Über den profilierten Kapitellen der Pilaster erheben sich rundbogige Blendnischen als oberer Abschluss zurückliegender Wandfelder, in die die Rechteckfenster der drei Obergeschosse eingelassen sind. In den rundbogigen Blendnischen sind die Ziegel als Flächenornament im Fischgratmuster gesetzt. Die Fensterbrüstungen der Fenster im 3. und 4. Obergeschoß sind verputzt.

Im Mitteltrakt ist die Fassadengliederung zurückhaltender ausgebildet. Die schlanken Rechteckfenster sind zwillingsweise zusammengefasst durch kräftige Wandpfeiler, mit denen die langgestreckte Front in 7 Hauptachsen unterteilt wird. Zwischen den Fensterpaaren befinden sich schlanke Backsteinpfeiler, die geschoßübergreifend die drei Obergeschosse optisch verbinden. Die Fensterbrüstungen (3. und 4. OG) sind wieder verputzt. Über den Fenstern des Mitteltraktes befindet sich in erhabenen Lettern die Inschrift: Ludw. Lindgens K.G. Lederfabrik.

Rückseite des straßenseitigen Fabrikbaus mit Turmbau und Kesselhaus. Foto 2019

Innenkonstruktion des Fabrikbaus von 1915/16
Die Rückfassade ist analog zur Vorderfassade gestaltet, jedoch in weitaus zurückhaltender Formensprache. Hier sind auch noch einige Metallsprossenfenster erhalten, die in den straßenwirksamen Fassaden durch nur noch von einem Kämpfer gegliederte Ganzglasscheiben ersetzt sind. Auf Höhe der Geschoßdecken befinden sich in Vorder- und Rückfassade gußeiserne Ankerplatten.

Rückseitig ist an den Fabrikbau ein Verbindungstrakt zu den anschließenden Werksbauten mit Turmbau angefügt. Der Turm trägt als Haube ein verschiefertes Zeltdach mit Halbrundfenstern. In dem Turm ist der Aufzug untergebracht. Die Innenkonstruktion besteht aus mittig unter dem First angeordneten Stahlbetonstützen und Stahlbetondecken über Unterzügen. Im Erdgeschoß war die Gerberei, in den Obergeschossen Zurichterei, Sattlerei und im Dachgeschoß das Lager untergebracht.

Das Verwaltungsgebäude von 1922 ist ein dreigeschossiger Backsteinbau (Wulstfugen) mit Walmdach über winkelförmigem Grundriss. Der direkt in die Straßenflucht gesetzte 5-achsige Flügel ist gegenüber dem rechtwinklig in das Werksgelände hineinragenden 6-achsigen Flügel um die Breite etwa einer Fensterachse versetzt angeordnet. In dem entstehenden Winkel zwischen den beiden Flügeln liegt der als Altan ausgebildete Haupteingang. Der Altan wird gestützt durch eine Säule und Pilaster mit stilisierten Kapitellen. Neben dem Verwaltungsgebäude befindet sich an der Straße das Pförtnerhaus aus der Zeit um 1910.

Die beiden Flügel werden optisch zusammengefasst durch ein Sohlbankgesims unter den Fenstern im 3. Obergeschoß und ein kräftiges Traufgesims, das Sternornamente in der Straßenfassade trägt. Die Fenster in den unteren Geschossen haben Sohlbänke und werden im straßenbegleitenden Flügel durch Schlußsteine akzentuiert. Die rechteckigen Fensteröffnungen sind mit kleinsprossigen Holzfenstern versehen. Im Walmdach sind Dreiecksgauben eingefügt.

Kesselhaus
Im hinteren Grundstücksgelände befindet sich das zwischen 1930 und 1942 erbaute Kesselhaus mit Schornstein.


Bedeutung

Die Lederfabrikation gehört zu den wichtigen Industriezweigen der Stadt Mülheim a. d. Ruhr. In keinem Ort Westdeutschlands findet sich eine derartige Zusammenballung von Lederfabriken.

Die Firma Lindgens hatte unter dem Mülheimer Betrieben eine besondere Bedeutung. Sie gehörte zu den ersten Unternehmen, die über einen handwerksmäßigen Zuschnitt hinauswuchsen und leistete mit Einführung der Spaltmaschine einen wesentlichen Beitrag zur Industrialisierung der Lederfabrikation. Die industrie- und wirtschaftsgeschichtliche Bedeutung kommt in Größe und städtebaulicher Anordnung der beiden beschriebenen Gebäude zum Ausdruck.

In städtebaulicher Hinsicht sind die straßenseitigen Gebäude beeindruckender Teil einer Fabrikstraße, die sich zwischen Broich und Saarn herausbildete und hauptsächlich von Unternehmen der Lederindustrie besetzt ist. Fabrik- und Verwaltungsbau der Fa. Lindgens besitzen in dieser Fabrikstraße durch Größe und architektonische Ausbildung einen herausragenden Stellenwert.

Die von dem regional bedeutenden Architekten Franz Hagen entworfene Architektur des Fabrikbaus ist noch der traditionellen Formensprache historistischer Industriearchitektur verbunden, entwickelt aber in der ausgewogenen Verteilung von Horizontal- und Vertikallinien und in einigen Details Ansätze für eine Formensprache, die in den 1920er Jahren zur Entfaltung kam. Die Architektur der Avantgarde der modernen Architektur im Rheinland (Wilhelm Kreis, Alfred Fischer) setzte die Tradition des Backsteinbaus in den 1920er Jahren fort. Franz Hagen gehörte ebenfalls zu dieser Richtung. Der Fabrikbau der Firma Lindgens ist zum Verständnis für die Entwicklung der Architektur in Westdeutschland ein wichtiges Bindeglied. Der Verwaltungstrakt von 1922 zeigt die weiterführende Tendenz.


Literatur

Ecksteins Biograph. Verlag: Ludw. Lindgens Lederwerke GmbH., Mülheim-Ruhr-Broich, o.O., o.J. (um 1919)
Einhundert Jahre Lederfabrik Ludw. Lindgens K-G., in: Jahrbuch Mülheim/Ruhr 1962, S. 181-183

Kurt L. Lindgens, Denkschrift rühmte Ruf der Löhereien und Lederfabriken, in: Jahrbuch Mülheim/Ruhr 1983, S. 296-300

Wilhelm Haferkamp, Die Entwicklung der Mülheimer Lederindustrie, in: Jahrbuch Mülheim/Ruhr 1958, S. 116-126

Lederfabrik Lindgens, in: Mülheimer Stadtspiegel

Ralf Eschenbrücher, Eine Lederfabrik in Mülheim a. d. Ruhr, in: Denkmalpflege im Rheinland 10 (1993) Heft 4, S. 172-175